* Europa2010: 24. Tag, Haapsalu – Viinistu (2)

Dass wir an diesem Tag noch weitere highlights geboten bekommen würden, war aufgrund der Planung zwar so gut wie sicher, aber was am Abend dann…

Aber der Reihe nach.

Die Strecke von Haapsalu an den Finnischen Meerbusen unter weiträumiger Umgehung von Tallinn (da waren wir 2005 und 2008, einmal lang, einmal kurz) ist eher mühsam, da kleine Strassen fehlen, will man nicht andauern über staubige Sandpisten holpern.

Man donnert also im Gesamtverkehr mit, der Rennbahn Ost nach Russland, bis man sich dann auf Nebenstrassen Richtung Ostsee und Nationalpark verdrücken kann. Wenn mann »donnern« kann.

Die baltischen Länder haben nämlich dieses Defizit nach wie vor, dass selbst grosse Teile der Landstrassen in erbärmlichem Zustand sind; einen Grossteil Schuld daran tragen, wie schon oft gesagt, die LKW. Um diesen Zustand zu ändern, werden – ausweislich entsprechender Schilder EU-gefördert – neue Rennbahnen gebaut. Wenn dies in place und bei laufendem Verkehr erfolgt, dann in der Regel so, dass man nicht kurze Abschnitte schrittweise renoviert sondern man gräbt kilometerlang die Landschaft um,

die hier i.W. aus Sand besteht (wie in der Ukraine, dort aber besteht der Untergrund dann vorzugsweise aus Sumpf und Morast) und lässt den Verkehr durch diese bunte Vielfalt aus Sandbergen, Kiesgruben, altem Strassenbelag, Schlaglöchern von astronomischen Ausmassen und nicht zuletzt mannigfaltigen Baustellengeräten »flissen«.

Nebenan tackert ein kilometerlanger Tankwagenkonvoi auf den Schienen. Er sieht nicht aus, als würde er Milch von der Kuh direkt auf den Tisch befördern.

Uuch ein veritables Asphaltwerk liegt links am Wegesrand, schön verkapselt.

Ach ja, es fällt mir gerade ein: Die Albaner können das, selbst mitten in Tirana, noch eine erkleckliche Spur besser: sie haben ihre Geschäfte und reichhaltigen Auslagen an solchen Strecken und betreiben ihre Autoverhüttungsanlagen direkt am Strassenrand (richtig verstanden! Sie schmelzen Autokarosserien und andere Teile in derartigen »Kleinbetrieben« ein).

Was ich sagen wollte: Wir schafften es, um Tallinn herum zu kommen und auf die Nebenstrassen nahe der Küste zu entfliehen. Dort findet man dann auch all die Sehenswürdigkeiten, die Reiseführer und Touristenbroschüren dem Bildungsbeflissenen ans Herz legen. Oder auch nicht. Und das kann unterschiedliche Gründe haben: Zum einen stehen zwar überall diese wunderbaren braunen Hinweisschilder.

Sie zu entziffern gelingt nicht immer, keine Touristeninfo hilft weiter. Ist das jetzt die Stelle? Das Internet wäre jetzt hilfreich, aber selbst in Estland auf freiem Feld in seiner WiFi-Variante nicht zu haben. Andererseits: Dort, wo man sich gerade befindet, müsste jetzt dringend ein Hinweis sein. Wie weiter? Wald- oder weiter Feldweg? Und warum hört die Strasse jetzt auf? Die dritte und sicher nicht die letzte Variante ist die, dass das Schild mit dem international verständlichen Hinweis »50 m« auf eine Stelle verweist, an der ein Baumgerippe steht, auf dessen Astenden leere Flaschen gestülpt sind; er steht da mitten in einer Sumpfwiese, unerreichbar. Touristenkarte und -journal weisen aber hartnäckig darauf hin, dass hier ein alte Glasbläserei zu besichtigen sei. So kommen auch Kilometer zusammen.

Mit dem Wasserfall…

…Jägala juga ging es uns nicht besser: An entscheidender Stelle kein Schild aber eine künstliche Staustufe.

Aber der wunderschönste, imposanteste Wasserfall Estlands? Er lag ca. 300 m weiter, etwas versteckt. Das zeigte uns GoogleEarth am Abend in Viinistu ganz deutlich, als wir unseren Tagestrack anschauten. Wäre ganz einfach gewesen…

Der zweite und mit bis zu 30 m Fallhöhe wohl höchste Wasserfall, der Valaste juga, im Gebiet von Kohtla vald war schon ausgefallen, bevor wir ihn betrachten konnten: Wassermangel aufgrund der Hitze hatten ihn zum jämmerlichen Rinnsal werden lassen, dem es kaum noch gelang, über die Kante zu kommen. Im Winter gefriert das Wasser zu bizarren Katarakten aus stalagmitischen und -titischen Säulen. Aber so lang mochten wir nicht warten. Aber gemach, das war morgen…

Überhaupt, Estland:

Bergland und Wasserfälle? In der Tat gibt es erhebliche Höhenunterschiede, insbesondere im Landesinnern (Otepää) oder Richtung Lettland als auch an den Küsten der Inseln (z.B. Panga Panks auf Saaremaa) und des Festlands, z.B auch bei Keila [2005-07-28 Paldiski-Tallinn-Tartu]. Auch Lettland kennt solche Gebiete (z.B. die »Lettische Schweiz« und rund um Kuldinga), Litauen weniger. Zum Teil hat wohl die Eiszeit es nicht ganz geschafft, alles abzuhobeln. Durch diese Hügel (darf man Berge sagen?)

haben sich dann Flüsse und Bäche gefressen, Gewässer, von denen man oft nicht weiss, in welche Richtung sie denn nun eigentlich fliessen. Andererseits, vor allem an den Küsten, haben sich z.T. mächtige Korallen- und Kalksedimentplatten aufgebaut und hoch geschoben, hier am finnischen Meerbusen eben der Glint mit teilweise über 50 m hohen Klippen, über die sich 35 Wasserfälle in die Ostsee stürzen.

Wie erwähnt: Wenn man sie findet. Und wenn Bremsen einen nicht bremsen.

Küste hinter Wald und Bremsenvorhang

Man fährt auf der Strecke nach Narwa entlang der Küste zu einem wesentlichen Teil durch den grössten und ältesten Naturpark Estlands, den Lahemaa-Nationalpark.

Auf schmalen, ruhigen und meist geteerten und durch lockeren Fichtenwald führende Stichstrassen gelangt man immer wieder an verträumte Strände und zu noch verträumteren, aufgeräumten Siedlungen (Tallinns Wochenendtourismus strahlt deutlich bis hier her), teilweise mit eigener hochgerüsteter Feuerwehr – und mit einem Laden, klar.

Die Strände der Ostsee…

…und das beklagen nicht nur wir sondern auch manche Balten, wenn man es bis zu ehrlichen Gesprächen schafft, haben ihre optische und ihre praktische Seite. Erstere ist mit »traumhaft« im Regelfall hinreichend und auch ehrlich beschrieben.

Die Wassertemperaturen haben wir nie zuvor so hoch angetroffen. Praktisch hingegen ist einiges zu bemängeln. Diesen Sommer, wieder ganz schlimm, ist die Algenblüte und die damit einhergehende Trübe des Wassers, stinkende Algenteppiche, viele tote Fische eine Plage. Den fehlenden Sauerstoff bei diesen hohen Temperaturen würden die Tiere wohl erst bemerken, wenn es zu spät ist. Da sind sie aber schon gekocht, schwimmen kiel-oben und vertrocknen dann an Land. Andererseits das seichte Wasser: Was für Kleinkinder ideal und ihre Eltern erholsam weil wenig aufsichtsintensiv ist, ärgert den Schwimmer: 500 Meter Kneipp’scher Fussmarsch bis einem die Wellen die Lenden netzen – bis da hin hat so manche Bremse ihr Leben durch herben Handschlag gelassen oder eben ihre Tagesration an gu tem Blut ergattert. Der Mensch kratzt die Stelle erleichtert, wenn sie sich nicht in null-komma-nichts zur handtellergrossen Erhebung ausweitet.

Und so fliehgt wer kann dort hin, wo auch die Sonne scheint, das Wasser aber schnorchelbar ist. Für 800 bis 900 Litas (ca. 260 €) geht’s ab nach Hurgada, 5 Sterne Vollpension für. Aber eben: Wer kann… Denn die Krise ist hier spürbarer als in Deutschland. Wer palmerische Verhältnisse (Jugenarbeitslosigkeit zwischen 30 und 40 Prozent) erinnert, fühlt sich schon fast wie zuhause… Wobei die Esten irgendwie stabiler wirken als Letten und Litauer. Und so sind eben auch 1.000 Litas hier eine Menge Geld. Obwohl – schaut man sich um, was an Fernsehgeräten in den einfachsten Wohnräumen steht… Es ist eben immer eine Frage der subjektiven Notwendigkeit.

Herrenhäuser und Grössenwahn

Zu den vielerlei Sehenswürdigkeiten Estlands gehören ohne Zweifel die Guts- und Herrenhäuser, Schlossanlagen mit ausgedehnten Parkanlagen oft…

…und zuweilen zur Skurrilität übersteigert. Was sich die Landherren und Barone, mit teilweise elend langem Stammbaum bis ins 13. Jahrhundert zurück, hier hinstellen liessen, reicht von schlicht und edel bis hin zu protzig übersteigert, oft nach Zeitgeschmack erweitert und verziert. Kolga protzt mit tempelähnlichem Portikus mit ionischen Säulen.

Eines, [], kommt gar im Stil einer englischen Manors daher, innen wie aussen. Oft in erbärmlichem Zustand die einen, wurden andere zur Firstclass-Nobelherberge renoviert, Park und Haus sind dann meist nur gegen Eintrittsgeld betretbar. In einem trägt man dann gar ein buntes Armband, sodass man als Zahlungsunwilliger schnell blossgestellt wäre.

Ganz ohne Zweifel geben die Besichtigungen der Anlagen einen Einblick und Lebensweise der adligen Oberschicht, die hier, jeweils gestützt durch schwedische, dänische Könige oder die Zaren und deren guten Willen, über Generationen ein vergleichsweise angenehmes Leben zu führen schienen. Über ihre Untertanen freilich erfährt man nichts, sie haben keine anderen Spuren hinterlassen als das Ergebnis ihrer Knochenarbeit – die Herrenhäuser. Die sind zuweilen tatsächlich wieder im Besitz der alten Geschlechter. Was aber, wie Kolga deutlich zeigt, nicht heisst, dass sie in gutem Zustand wären. Jedenfalls: Der Küstenabschnitt hier oben ist voll von ihnen und wir klapperten sie ab, Hitze hin, Hitze her.

Anmerkung: Die Herrenhäuser traten nicht nur an diesem Tag zur Besichtigung an. Deshalb erscheinen sie zunächst an den entsprechenden Tagen. Das erste war in Pädaste auf Muhu. Siehe auch Suuremõisa auf Hiumaa. Und die anderen folgen. Am nächsten Tag.

Ja – und am Ende des Tages eben Viinitsu

Fast auf halber Strecke liegt das Örtchen an der Ostseite einer der beiden grössten Halbinseln, die in den Finnischen Meerbusen ragen. Der nördlichste Punkt Estlands liegt hier und eben diese wohl von Anfang an überdimensionierte ehemalige Fischverarbeitungskolchose, ohne die das grüne Touristenjournal nicht einmal diese knappen fünf Zeilen verlieren würde: »Wer sich für moderne estnische Kunst interessiert…«.

Also: Estnisch-schwedischer Geschäftsmann, hier geboren, kauft die ehemalige Kolchose und gestaltet sie zu einem Kunstmuseum mit Theater, Tagungsstätte und Hotel um. Das ganze im schlichtesten Stil aber mit Pfiff an allen Enden. Die Bilder und Skulpuren hängen an allen freien Wänden bzw. stehen mitten im Gelände:

Ein Kunstpark mit fantastischem Meerblick, ein Flecken Erde, an dem man sich ab der ersten Sekunde wohl fühlt und wo man eigentlich nicht so schnell wieder weg möchte.

Und dass dann noch …

…gerade auch Vollmond ist, das darf man unter diesen Umständen ja wohl erwarten.

Picasa

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4 Antworten zu * Europa2010: 24. Tag, Haapsalu – Viinistu (2)

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  4. Günther Schäfer sagt:

    Irgenwelche guten Reiseveranstalter suchen sicherlich händeringend Experten wie euch. Ihr könntet das doch als Nebenjob machen. Ihr wärt die besten Fremdenführer mit bester Ortskenntnis.
    Klasse und interessant, was ihr alles erlebt.

    Grüße Günther und Veronika

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