Donnerstag, 20.02.2014, 17:35:33 :: Galanado
Es gäbe vieles zu berichten von hier: Geburtstagsparties, Karneval der Kinder, Stadtführungen der Sonderklasse…
Aber die Ereignis in der Ukraine lassen mich an nichts anderes denken. Seit vielen Jahren besuchen wir das Land, haben Freunde dort. Ein wenig konnten wir die Entwicklung mit verfolgen.
Und nun das
Seit langer Zeit, seit Monaten, ja Jahren ist offensichtlich, in welchen Wirrnissen das Land steckt. Politik ist Oligarchensache, Demokratie absolute Nebensache, offene Korruption an allen Ecken und Enden. Russland und die USA/EU liefern sich hier einen nur ungenügend verdeckten Kampf um Europas zweitgrössten Flächenstaat. Und da schwingt sich ein Boxer zur Hauptfigur der »Opposition« auf, wird von der EU hofiert; freilich nicht zuletzt, weil es an ernst zu nehmende Alternativen einfach mangelt. Da werden Wirbelsäulenschäden von Timoschenko politisiert. Nur pure Menschlichkeit waltet auch dabei nicht. Und die in der Westukraine weit verbreitete Swoboda-Bewegung war schon immer allenfalls mit der Beisszange anzufassen. Ja, fast alles dort hat mehr als ein »Geschmäckle«. Und keiner sage, die EU-Politik und -Presse wüsste das nicht. Warum heben sie diese Figuren aufs Schild, hofieren sie??? Ich weiss: Es gibt sonst niemanden – das ist die günstigste Erklärung. Wahr ist sie jedoch nur teilweise.
Wir haben 2014. Als 1991, also vor über 20 Jahren, das kleine Litauen als erste der ehemaligen Sowjetrepubliken per Volksengscheid unabhängig wurde, staunten wir in der gerade eben zusammengebappten neuen Republik allenfalls darüber, was irgendwo dort im Osten geschah. Niemandem kam der Gedanke, das genau dort im Bezirk Vilnius der Mittelpunkt Europas liegt, zu west-»zentriert« waren wir. Im 19. Jahrhundert lag der Mittelpunkt übrigens in der Westukraine bei Rachiw bzw. in einem Dorf in Polen. Alles Orte, die wir schon mehrfach besucht haben. Und die östlich von uns liegen. Diese Westzentriertheit macht es vielen so schwer, wahrzunehmen, wie wichtig Osteuropa für unsere Kultur ist.
Rund Europa
Jedenfalls: Ab 1994, verstärkt ab 1995 bis heute konnte und kann ich beobachten, wie der Wechsel in Litauen vor sich ging – und heute noch nicht abgeschlossen ist: Russische und polnische Minderheiten, Aversionen, die wir gar nicht verstehen können, Dichter, die Polen und Litauer gleichermassen (und zu Recht!) für sich reklamieren, Städte und Dörfer, die sich hüben wie drüben gar nicht unterscheiden (weil die Grenze sich immer wieder um hunderte von Kilometern verschoben hat).
Ich habe junge Männer kennengelernt, die mir stolz erzählten, wie sie in den Kämpfen 1991 ihr gerade gekürtes Staatsoberhaupt als junge Soldaten verteidigt haben. Ich habe die Museen besucht, ich kenne die enorme Problematik der litauischen Komplizenschaft in der Nazizeit und der damit verbundenen Judenvernichtung (Vilnius wird auch das »Jerusalem des Nordens« genannt; um 1900 waren über 40% der Einwohner jüdisch). All die Jahre seither besuchen wir u.a. die Landstriche der Baltischen Staaten, Ostpolens – und eben der Westukraine. Wir habe dort die Wahlkämpfe Timoschenkos mitverfolgt, viel mit jungen Leuten zusammen gesessen, diskutiert und viel dabei gelernt, vor allem.
Während in Litauen Russen eine Minderheit von ca. 5% darstellen, die grösstenteils erst nach dem 2. WK zugewandert, also nicht unbedingt stark verwurzelt ist, stellen sie in der Ukraine ca. 18 % der Bevölkerung; darüber hinaus geben fast noch einmal so viele Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache an. Und das geht schon seit dem Mittelalter. Die Ukraine hat damit wirklich ein grosses Problem, das sie aber selbst lösen muss. Dazu kommt, dass die Ukraine Europas zweitgrösster Flächenstaat ist. Die Weiten der Ukraine und Russlands muss man erfahren haben. Man versteht dann Vieles eher.
Unredlicher Westen – unredliches Russland
Mich schmerzt daher, wie die EU, die USA (natürlich!) und Russland (natürlich!) agieren. Was heisst »schmerzt«? Es macht mich wütend. Die Ukraine ist mit Kiew das Herz des alten Russlands. Man muss das wissen und bedenken, wenn man über die wirkenden Interessen redet. Die USA haben da am wenigsten zu suchen. Aber deren Arroganz und Machansprüche sind ja mit dem Zitat »Fuck the EU!« noch milde charakterisiert:
Brzezinski kommt […] zu dem Schluß, daß das erste Ziel amerikanischer Außenpolitik darin bestehen muß, »daß kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen.« (S. 283) Es gelte, »die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich« hinauszuschieben. (S. 304) Die USA verfolgen das Ziel, »die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren«. Sie müssen »das Emporkommen eines Rivalen um die Macht (…) vereiteln«.
Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Putin hin oder her. Aber da muss das Land alleine durch, ohne fremde »Hilfe«. Sie müssen es eben lernen, das ist schwer genug. Aber Boxer und Ultrarechte haben dabei nichts zu suchen. Wir dürfen sie nicht hofieren.
Ich empfehle dazu auch das Buch von Karl Schlögel, Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent. Bei vielen derzeitigen Kommentatoren auf den Webseiten der gängigen Medien würde die Lektüre erhellend wirken.
All right. Wish me luck, we’re going to the main square in our town 🙂
Mit diesen Worten verabschiedete sich unser Freund aus Chmelnyzkyj heute Abend. Dort brannte gestern Abend ein kommunales Gebäude. Friedliche Demonstration EU-affiner Demokraten?
Links:
- Telepolis: Die Guten un d die Bösen :: Mathias Bröckers/Paul Schreyer 18.08.2014. Ansichten eines Putinverstehers.
- Europa, sollte mach sich mal wieder vergegenwärtigen
- Karl Schlögel, Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent
- Albrecht Müller in den Nachdenkseiten vom 21.02.2014
- Telepolis: Ukraine: Der Qualitätsjournalismus versagt
- Andere Stimmen – DIE ZEIT: Das Netzwerk der Euromaidan-Verleumder
- CARTA: Finnland und die Ukraine