* Rund Europa 2016 (2), 26. Tag: Ilomantsi – Parikkala

Sonntag, 26.06.2016, 17:59:51 :: Parikkala (Nord-Karelien), Hotel Laatokan Portti

So gut wie in Russland

Die Grenze ist in Sichtweite, wenngleich nicht sichtbar. Sie liegt mitten im See, der nächste Punkt ca. 700 Meter vom Hotel entfernt, die Strasse ist Anfang des Grenzgebietes, das nicht betreten werden darf. Betreten geht auch nicht, da ist nur Wasser. Alles ist zweisprachig, wir hören eine Menge russisch, ich denke, der Wirt ist ebenfalls Russe.

Er betreibt neben dem Hotel eine Fischräucherei mit Kiosk, es ist ein erhebliches Ankommen und Wegfahren, trotz Sonntag (der Autos natürlich), alle ziehen sie mit einem grossen Stück geräuchertem Lachs in einer Plastiktüte wieder von dannen; so hat man sich Anfang der Sechziger abends sein Halbes Hähnchen geholt, oder? Und die Zahl der Karossen mit russischem Kennzeichen hält sich die Waage mit der der finnischen. Nur die russischen scheinen tendenziell grösser.

Wir holen uns ebenfalls… – nein, halt. Da war ja davor noch einiges passiert.

Ilomantsi, die Gemeinde, in der unsere Campinghütte am See liegt, ist die östlichste in Finnland. Dann kommt erst mal lange nur Russland, dann der Pazifik. Das würde aber jetzt über das eigentliche Thema hinaus führen. Natürlich gibt es aber noch grenznähere Orte, die zur Gemeine gehören. Und eine wollen wir an diesem Sonntagmorgen besuchen. Wir wissen auch seit gestern Nachmittag, dass in diesem Teil Finnlands der Winterkrieg der Finnen gegen Russland besonders hart getobt hat.

Als wir den Campingplatz nach einem selbst gemachten Frühstück und nach kurzem Nachrichten- und Emailcheck verlassen, ist ausser uns niemand unterwegs. Hier auf dem Platz war gestern Abend verspätetes Sonnwendfeuer… Wem das jetzt gedanklich nicht weiterhilft, hat einen vorangegangenen Beitrag nicht gelesen.

Ganz weit draussen…

Als wir Möhkö erreichen ist auch hier zunächst alles verlassen. Wir studieren Schautafeln mit vielen roten und blauen Pfeilen, die die Kämpfe verdeutlichen und Ehren- und Gedenkmale, sehen auf der anderen Flussseite ein riesiges Holzschiff an Land stehen,…

…finden den Eingang zum Museum und merken langsam, dass hier eine Eisenindustrie bestanden hat, die nun im Museum in Erinnerung gehalten wird. Es ist aber alles dicht, es ist noch vor zehn Uhr. Aber einzelne Männer beginnen, Gegenstände hin und her zu tragen, wir entdecken den Platz, an dem wohl gestern Nacht das Sonnwendfeuer brannte, auf den Tischen rund um das Schiff stehe noch die Vasen mit Wiesenblumen…

Das Riesenschiff entpuppt sich als Café, das mittlerweile geöffnet ist, nebenan entdecken wir eine grossen überdachten Tanzboden, auf der kleinen Empore steht noch ein Stuhl, auf dem wohl ein Musiker sass und nicht zuletzt steht dann noch ein Amphitheater – ganz aus Holz gezimmert – vor uns. Wir entdecken und entdecken, der kleine Ort ist voller Überraschungen.

Zuletzt stehen wir auf den hölzernen Schleusen, die es ermöglicht haben, Holz zu flössen und dem Wasserrad des Eisenwerkes das nötige Wasser zuzuführen, um das Gebläse zu betreiben. All das wäre wohl im Museum zu besichtigen, aber die Zeit verfliegt mal wieder…

Nachdem wir im Schiffs-Café einen Kuchen mit Kaffee zu uns genommen und das kuriose Innenleben bewundert haben und uns die hilfsbereite Wirtin mit Material und Infos ortskundig gemacht hat,…

…überlegen wir kurz, ob wir die orthodoxen Kirchen im nördlichen Grenzland noch aufsuchen sollen – die Entscheidung fällt uns nicht leicht aber trotzdem dagegen aus, es wären weitere 80 km hin und zurück. Und ausserdem: es muss schliesslich auch noch was für die Zukunft übrig bleiben 😉

So fahren wir zurück nach Ilomantsi, denn nur dort können wir Senfles Bauch für die weitere Fahrt nach Süden füllen. Unterwegs wird es keine Tankstelle mehr geben.

Wälder, Wälder, Wälder

Es ist nach wie vor, selbst nach so vielen Tagen, so unglaublich und vielseitig, stundenlang durch diese riesigen Wälder zu fahren, Flüsse zu überqueren, die mal reissend unter uns durchsprudeln oder träge vor sich hin sumpfen, das gleissende Licht auf den Seen gespiegelt zu sehen (freilich nur, wenn die Sonne scheint, was sie häufig tut); die Natur ist vielseitiger als Städtearchitektur…

Die Geschichte einer orthodoxen Kapelle

Fast hätte ich sie übersehen, die rote Kapelle an der linken Strassenseite. Aber ich habe sie sofort wiedererkannt, hatte ich mir das Bild doch extra kopiert während der Reiseplanung.

Sie ist relativ neu, sozusagen eine Wiedergeburt: Das Dorf, das während des russisch-finnischen Krieges (1939-1944) an Russland fiel, wurde völlig zerstört, ebenso die Marienkirche. Die nach Westen vertriebenen Finnen schafften es, die wertvolle Marien-Ikone zu retten und mitzunehmen.

Hier an der Strasse bauten sie diese Marinekapelle zum Gedenken. Es existieren wohl einige orthodoxe Gemeinden im ansonsten von der römischen Kirche und von reformierten Ablegern »beherrschten« Grenzland (selbst die Zeugen Jehovas konnten wir in einem Ort entdecken). Hier im Grenzland durchmischen sich also nach wie vor die russische und die »westliche« Welt.

Grenzlandmarkt

Das beweist sich auch beim Wiederbesuch des – für uns! – sonderbaren, ja fast skurrilen Gebrauchtwaren-Marktes in einem unscheinbaren Haus am Strassenrand, auf den wir so gespannt sind, weil wir dort vor vier Jahren in uriger Gesellschaft bei echter Schallplattenmusik Kaffee und Kuchen genossen haben: Eine enorme Ansammlung von gebrauchten Gegenständen, vom Trödelkram über gebrauchte Babykleidung bis zur mondänen Stola findet man hier wohl alles.

Leider gibt’s heute keinen Kaffee – nur alle sechs Wochen, erklärt uns eine der Betreiberinnen bedauernd – aber stöbern lohnt trotzdem, Lis findet was für ihr outfit und ich die Mumins im Original; ihre Mutter, die Schriftstellerin Tove Jansson ist Finnin.

Und das an dieser Stelle nebenbei: Wer tagelang durch die Wälder mit ihren bemoosten, flechtenüberzogenen Felsen und Steinen, den Heidelbeer- und Blütenteppichen gefahren ist, beginnt nicht nur zu verstehen, weshalb hier Trolle und Kobolde leben müssen, der beginnt daran zu glauben…

Wo Babysachen für 20 Cent angeboten werden, wo russische und finnische Frauen in Kleiderbergen wühlen, da ist der so hochgepriesene westliche Wohlstand fern. Es ist eine arme, aber keine trostlose Gegend, der Sommer mit viel Grün, dem Blütenreichtum und dem Duft von Heu stimmt fröhlich. An die langen, dunklen Winter mag man nicht denken – ausser, man ist ein Mitglied der Mumins.

Am frühen Nachmittag erreichen wir dann unser Domizil wie am Anfang beschrieben.

Es ist Muminland.

Die 600 g geräucherten nahezu fettfreien Lachses schaffen wir nicht auf Anhieb. Wir lassen den Rest in den Kühlschrank zurück legen.

Am Abend muss uns der Wirt gestehen, dass eine seiner Küchenhilfen unseren Lachs mittlerweile zu Fischsuppe verarbeitet hat (von der Lis behauptet, sie schmecke vorzüglich). Er schneidet uns daher kurzerhand ein neues Stück ab und wir stehen damit vor einem doppelt so grossen Problem wie vor dem Deponieren in seinem Kühlschrank. Wie gesagt: Lachs, Lachs, Lachs in Hülle und Fülle.

Links:

Dieser Beitrag wurde unter RundEuropa2014 veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar