* Seglerliteratur oder Zeitgeschichte?

Dienstag, 14.07.2009, 12:43:07 :: La Palma
Mittwoch, 22.07.2020, 22:07:31 :: Korrektur Webseite Koch

Auch wenn ich mich wiederhole: Mein Blog ist und bleibt werbefrei. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich nicht hin und wieder was empfehle. Insbesondere, wenn’s um Bücher geht. Denn Lesen ist nicht nur ein probates Antidot gegen fast alle Formen der Demenz, es gehört auch zu den Freuden, die ohne grössere Umweltschäden genossen werden können; wenn man vom niedergelegenen Gras unter einem Apfelbaum auf einer Wiese im Allgäu oder sonstwo, wo es gerade nicht regnet, absieht.

Wer’s nicht glaubt, lässt sich vielleicht durch dieses Bändchen und von der Queen überzeugen; knapp über hundert Seiten sind noch keine allzu starke Zumutung, vor allem wenn’s doch eh‘ regnet da draussen.

Also: Worum geht’s?

Darum.

Inseln jenseits der Zeit – Mit der FREYDIS durch Melanesien

Ist es ein Seglerbuch? Ja und nein. Und wenn ja, dann aber kein typisches. Da ich selbst kein Segler bin, aber sich massgeblich solche im Familien- und Freundeskreis tummeln, habe ich mittlerweile viele »Seglerbücher« gelesen. Teilweise mit Gewinn, teils hat sich mir so Manches nicht so recht erschlossen, insbesondere dann, wenn Rekordsucht und Technik im Vordergrund standen.

Siegerpost mit Champus

Ganz anders beim vorliegenden Band unserer Freundin Heide Wilts. Sie segelt zusammen mit Erich, ihrem Mann, seit Jahren auf der Freydis überall dort, wo Wasser ist – und das möglichst noch in Form von Eis.

Das hier besprochene Buch erschien 2008, fast acht Jahre nach der eigentlichen Reise. Die Gründe sind zunächst nebensächlich. Denn sie sind unwichtig, eben weil es keine Schilderung des x-ten Segeltörns ist. Dennoch: Im Laufe der Erzählung klärt sich manches. Und es beweist, dass auch Segeln in wärmeren Gefielden nicht unbedingt »Barfussroute« bedeuten muss.

Wie schon bei den vorangegangen Büchern von Heide Wilts blättert man irgendwann auf die letzte Seite, klappt’s zu, legt’s zur Seite und denkt: Schade.

Denn trotz der beschränkten Zahl von 256 Seiten (man merkt häufig, wo mal mehr stand oder stehen könnte, was man jetzt gerne auch noch wissen würde; aber Verlage haben nun mal für »Abenteuerbücher« ein bestimmtes Format) – es ist ein wirkliches Mammutwerk. Und nicht zuletzt dank der Hilfe von GoogleEarth ist heute alles absolut begreifbar und bis auf ganz wenige Buchten am Bildschirm nachvollziehbar. Ich war während dieser Tage der Lektüre wenig zuhause…

Weiter Pazifik

Das grösste »aha!« hatte ich schon zu Anfang bei der Schilderung der Weite des Pazifiks, ich hatte mir das noch nie so konzentriert und deutlich vor Augen geführt. Die Inseldetails natürlich sowieso nicht. Denn mit dem Verlassen unserer Kindheit lassen wir ja meist auch Robinson Crusoe, die Schatzinsel, den Seewolf und all die »wilden Kerle« und ihre Verstecke, die tanzenden Ureinwohner und das Gruselige hinter uns.

Es war und ist ein grosser Gewinn für mich, auch an all das wieder erinnert zu werden und es mit heutigem Wissen abzugleichen.

Vielleicht, und das nur ganz kurz, zum Grund der Reise: Das Magazin GEO plante Berichte über Melanesien und suchte deshalb einen Skipper. GEO wählte die robuste Freydis mit Heide und Erich Wilts aus, um mit Journalisten und Fotografen – insgesamt drei Teams – dort durch das Inselgewirr zu kreuzen.

Kleingruppendynamik…

Dass die GEO-Gäste teilweise derart auf dem Egotrip waren, das wundert und enttäuscht mich; sollten solche Aufträge einen Menschen doch eher zum kritischen und rücksichtsvollen Kommunikationswunder wandeln, wenn man derart aufeinander angewiesen ist, auf kleiner Fläche und unter beengten räumlichen Verhältnissen. So wenig Instinkt. Ich kann mir vorstellen, dass der »Skipper un‘ sin Fru« mehrfach einen extrem dicken Hals hatten. Es wäre daher auch interessant, nach den Geo-Heften zu fanden und danach, was denn die Passagiere im Gegensatz zur Autorin so fabuliert haben. Jedenfalls fällt so auch eine, wenn auch verhaltene, soziologische Studie über Kleingruppen mit ab.

…Südseezauber…

Was passiert, wenn man so von Insel zu Insel segelt? Zu Inseln, die heute noch in einer Abgeschiedenheit liegen, mit Menschen, deren Leben sich weit ab vom Eis spendenden Kühlschrank und in grosser Abgeschiedenheit, ja Einsamkeit abspielt, welche Eindrücke sammelt man, was erfährt man auch über sich selbst und unsere »tolle« Kultur, die wir meinen, weltweit ohne Unterlass verspritzen zu müssen? Wälder und Bergen, Riffe und Atolle, klar. Aber auch Eingriffe fremder und gefrässiger Technik in diese doch noch paradiesischen Eilande. Eine grosse Wehmut kam in mir auf.

…und Umweltzerstörung

Der Mensch ist ja grundsätzlich ein grosser Zerstörer. Aber wie das alles in unseren Jugendabenteuergeschichten wirklich war, wurde mir bei der Lektüre wieder bewusst: Erst andere Länder und Völker entdecken und zerstören, die Menschen, ihre Kultur, ihr Land und mittlerweile eben die ganze Erde . Die schönsten der im Buch so eindrucksvoll beschriebenen Atolle wird es in ein paar Jahrzehnten ganz sicher nicht mehr geben. Wobei das auch noch nicht das Schlimmste ist…

Jedenfalls habe ich festgestellt, dass auch diese Form des Reisens, das Lesen von „Segelbüchern“, begleitet und unterstützt von GoogleEarth beim Umrunden der Inseln und ihrer Buchten, dass Lesen auf diese Art bildet und den Horizont weitet.

Heide Wilts ist etwas Hervorragendes gelungen. Denn sie führt uns, am Tagtäglichen vorbei, nicht nur in den Urwald und auf Vulkane, zu den Menschen (und das sehr dicht), zu ihren Ritualen, Festen und Sorgen – sie liefert uns auch unterhaltend die historischen und die aktuell politischen Hintergründe; eine umfassende Literaturarbeit steckt da dahinter bzw. lag da davor. Nur: Wer weiss es und wer liest es? Na, vielleicht Sie…

Kurz nach der Lektüre waren Segler hier bei Elga zu angekündigtem Besuch, die Ernst-Jürgens Bücher gelesen haben und Elga im Internet wiedergefunden hatten (Kurz zur Erklärung: Elga und Ernst Jürgen Koch waren die ersten deutschen Weltumsegler in den 1960-er-Jahren und Elga ist meine Tante). Die Besucher hatten Heide Wilts Buch immerhin schon gekauft; da werden sie es auch gelesen haben. Nur: Mehr und andere als nur Segler sollten angesprochen sein…

Und danach kam in 3Sat eine Kap-Hoorn-Umrundungssendung. Haben wir angesehen, ja. Etwas langweilig und nichtssagend, aber mit demselben Bootstyp wie die Freydis. Das war wirklich nur was für Segler…

Ich muss immer noch weiter nachdenken. In Heide Wilts Buch steckt mehr, als sie geschrieben hat/schreiben konnte/durfte. Es erinnert mich auch an Ernst-Jürgens letztes Buch, das meiner Meinung nach zu kritisch war für Segler; nicht mal die haben es in nennenswerter Zahl gelesen. Es war wohl zu sehr Spiegel. Trinkgelage und zu viel Stoff sind kein allzu weit tragendes Thema, aber ihre Erwähnung zuweilen unangenehm…

In der Tat hat die Welt noch nicht begriffen, dass das zu Ende gegangen ist, was wir so genossen haben: Das gute Leben durch Ausbeutung von Mensch und Umwelt. Beides wird zwar so weitergehen bis zum bitteren Ende fürchte ich, aber die Hauptdarsteller werden zum Teil andere sein: China steckt seine Hände nach Afrika und Südamerika aus; damit grabbeln sie in der Hinterhofsandkiste der USA.

Heide Wilts zeigt uns auch das: Zerstörte Bergwälder, ausgeraubt und zerschlissen zurückgelassen von australischen Kupfermineuren. Das zerstörte Paradies. Zerstört durch unsere Welt und ihre Gier.

Das alles im Kopf und im Herzen kann den Wilts keiner nehmen, das Bewusstsein, Einblick und Einsicht zu haben, Zusammenhänge einfach zu kennen durch Anschauung und eigenes Erleben.

Ein wenig kann man in dieses Buch teilnehmen, mit den Augen und dem Urteil von Heide Wilts und den Fotos von Erich Wilts, von denen ich hier mit seiner freundlichen Genehmigung einige zeige. Ganz ohne Fernsehen.

Und vielleicht schenken uns die Wilts irgendwann ein neues Buch, eine Essenz aus allen Fahrten, vielleicht sogar ungeschminkt, ohne Rücksicht auf die Menschen, die es eigentlich nicht verdient hatten, dass die Wilts sie mitgenommen und sich selbst zurückgehalten haben. Und vielleicht hat es viel mehr Bilder als der besprochen Band hat. Ja, ich weiss: Wer wird es denn kaufen? Wer nimmt sich die Zeit, wer hat die Muse, die Dinge stärker zu durchdringen?

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2 Antworten zu * Seglerliteratur oder Zeitgeschichte?

  1. Peter sagt:

    Danke für diesen ausführlichen Buchtipp. Von Heide Wilts habe ich bisher noch nichts gelesen, scheint aber etwas zu sein, was in meinem Bücherregal noch dringend fehlt 🙂

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