* Rund Europa 2012, 82. Tag: Augustow – Łosice (1)

Dienstag, 21.08.2012, 10:42:02 :: Augustów
Dienstag, 21.08.2012, 20:00:00 :: Meszki/Łosice
Samstag, 25.08.2012, 18:09:37 :: Khmelnitskyi
Montag, 27.08.2012, 19:05:08 :: Czernowitz

Als wir aufgestanden sind und ich in unserem Terrassenzimmer trete um den jungen Morgen zu begrüssen (schön, gell?), da schwant mir Böses. Nebenan im vermeintlich aufgegebenen Chinarestaurant brennt Licht. Ich linse zwischen den Sichtblenden durch und – ja! Emsiges Treiben, dort ist das Frühstücksbüffet.

Also aus dem Zimmer raus, drei Schritte zur offenen Türe des Restaurants und wir befinden uns mitten im polnischen Hinterwald mitten in der exotischen Umgebung eines Chinarestaurant, wie wir alles es kennen und lieben…

Nur eben mit polnischem Frühstücksbüffet.

Ausser etwas Joghurt und Rührei ist nicht dabei für mich. Und so nehmen wir Abschied von der Lagune und den Wildschweinen…

…und machen uns auf nach Łosice, wo eine neue Couchsurfer-Bekanntschaft auf uns wartet. Diese Route ist an sich auch nichts Neues, x-mal sind wir diese Strecke schon gefahren und wir wissen, es ist eine »Mörderstrecke«. So nennen wir Strecken, auf denen ausser uns auch andere Autos fahren, vor allem Lastwagen, Fünfachser, die alles niederbügeln und die diese Längsfurchen in die Strassen graben, zuweilen so tief, dass wir sie nicht durchfahren dürfen, ohne dass das Bodenbleck sich höllisch laut beschwert.

Das Zentrum Europas…

…, besser dessen geografischer Mittelpunkt, verschiebt sich offenbar beträchtlich, je nachdem, wie präzise gemessen wird und auch, wie man »Europa« definiert. Jedenfalls befand sich nach den Berechnungen des polnische Kartografen und Astronomen Szymon Antoni Sobiekrajski 1775 das Zentren in Suchowola. 1887 berechneten die Fachleute eine Stelle bei Rachiv in der Ukraine, die wir auch schon besucht haben. Heutzutage, darüber berichte ich ja immer wieder, liegt es nördlich von Vilnius.

…und des Wiederstandes

Wer nun auch immer Recht hat: Wir sind heute mal wieder durch Suchowola gefahren und auch mal ausgestiegen. Da überspannt nämlich ein riesiger Metallgerüstbogen den Platz vor der Kirche. Wasserfontänen schiessen hoch.

Jedoch handelt es sich nicht um irgendeine Achter- oder Wildwasserbahn sondern um eine Jubelkonstruktion, die anlässlich des damaligen (polnischen!) Papstes in Bialistok dort errichtet und später hier nach Suchowola verpflanzt wurde. Nicht zuletzt wohl, weil es die Heimatgemeinde des späteren Priesters Jerzy Popiełuszko ist. Popiełuszko wurde wegen seiner Unterstützung der Gewerkschaft Solidarność 1984 von der polnischen Staatssicherheitsdienst ermordet und 2010 selig gesprochen – wahrlich genügend Gründe, hier anzuhalten und sich umzusehen.

Kirchen, Kapellen, Kreuze

Polen ist ein streng katholisches Land. Kirchen finden sich in beliebiger Zahl und Grösse selbst im kleinsten Weiler.

Die Wegränder sind in einer an Griechenland erinnernden Häufigkeit mit Wegkapellen und Kreuzen geschmückt.

Die römische Kirche hat sich ja über die Jahrhunderte mithilfe von Ritterhorden und -orden missionierend nach Osten vorgeschoben, immer auch als Gegengewicht gegen die russisch-orthodoxe Kirche, die von der anderen Seite her drängte. Je dichter man an die Grenze zu Belarus und der Ukraine kommt umso mehr findet man auch orthodoxe Kirchen. Nur der Vollständigkeit halber mal wieder der Hinweis, dass die römische Kirche auch vor Prostitution nicht zurückschreckte, wenn es darum ging, wieder einen Teil Osteuropas in ihre Fänge zu bekommen: Dem litauischen Grossfürsten (Litauen reichte zu der Zeit von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer!), immer noch Heide samt seiner Untertanen wurde die polnische Königstocher samt polnischer Krone angeboten, wenn er samt seiner »Wilden« zum römischen Glauben übertreten würde. Und er konnte nicht widerstehen. Ob der Tochter oder der Krone wegen, das ist wohl nicht mehr feststellbar.

Großfürst Jogaila übernahm 1386 durch Heirat und den Übertritt zum Christentum (nach Mindaugas‘ Tod 1263 war Litauen wieder heidnisch ‚geworden“) die polnische Königskrone und gründete damit die Polnisch-Litauische Personalunion. Jogaila (polnisch: Jagiello) begründete das Herrschergeschlecht der Jagiellonen. Nach der siegreichen Schlacht bei Tannenberg 1410 wurde die Bedrohung durch den Deutschen Orden endgültig beseitigt. Diese Schlacht war von einem vereinten polnisch-litauischen Heer gewonnen worden.

Die enge politische Einheit Polens und Litauens mündete 1569 in die Realunion von Lublin, die das Ende des eigenständigen Litauens bedeutete, nachdem der litauische Adel bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten zunehmend unter den Einfluss der polnischen Kultur und Sprache gelangt war. So ging Litauen in den Zeiten der Reformation den polnischen Weg und blieb katholisch, während das nördliche, deutsch beeinflusste Baltikum protestantisch wurde. Litauen blieb bis zu den polnischen Teilungen bei Polen und kam dann 1795 unter russische Herrschaft. Zwei polnisch-litauische Aufstände in den Jahren 1831 und 1863 wurden vom russischen Zaren blutig unterdrückt.

Quelle: Wikipedia

Warum die Litauer grösstenteils so schlecht auf die Polen zu sprechen sind, hat sich mir bisher nicht erschlossen. Sie kennen wohl ihre Geschichte nicht so recht. Oder wollen sie nicht wahrhaben. Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte. Genauso wie die der Juden in diesem Teil Europas: Fast keine Stadt, kein Dorf hier, dessen Bevölkerung vor dem deutschen Einmarsch nicht zu einem erheblichen Teil, oft gar mehrheitlich, jüdisch gewesen ist.

Genügend zum Nachdenken also, während wir hier durch die Landschaft zuckeln, meist hinter einem LKW her (Überholen ist meist so eine Sache), in den Dörfern die Tagetesrabatten bewundern, bemerken, dass es keine Pferdewagen mehr gibt und nach den Kirchen Ausschau halten. Und uns immer wieder fragen, wie es den Menschen hier so ergeht, die ein Schüsselchen mit Tomaten oder Äpfeln auf einem Hockerchen an der Strasse zum Verkauf anbieten. Und dass es fast (oder ganz?) ausnahmslos alte, krumme, in Schürzen und Kopftüchern eingehüllte Frauen sind, die sich auf der Strasse mit dem Heimtreiben einer Kuh abquälen, einen Sack mit sich herum schleppen… Liegt es nur daran, dass die Lebenserwartung von Frauen höher ist?

Flüsse

Quelle: Wikipedia

Wir überqueren immer wieder Flüsse mit Namen, die wir zwar irgendwie kennen, aber die dennoch ein Geheimnis geblieben sind: Der Narew, gleich südlich von Białistok, später am Nachmittag der Bug; alles Schicksalsflüsse.

Hier fliesen sie, die grün wuchernden Ufer und die Sandbänke präsentierend. Weit und breit kein Übergang, nur eben die Brücke, über die wir gerade holpern. Geländer sind oft Makulatur, Reinfallen ein Leichtes.

Fortsetzung, Teil 2

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3 Antworten zu * Rund Europa 2012, 82. Tag: Augustow – Łosice (1)

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  3. Helmut Hansen sagt:

    Lieber Reinard,

    Deine Beiträge sind eigentlich viel zu schade für so ein schnelllebiges Medium wie einen Blog.. Ich hoffe, sie finden eines Tages Ausdruck in Form eines Buches…

    Euch weiterhin eine so interessante Reise.

    Mit herzlichen Grüssen
    Helmut

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