Samstag, 23.08.2014, 23:30:39 :: Raudondvaris
Ich komme seit nunmehr 19 Jahren hierher nach Litauen und ich habe viele Veränderungen erlebt, kleine und grosse. Oft waren es Lösungen von Problemen, die völlig anders waren, als ich sie kannte oder erwartet hätte. Zuweilen schien die alte, sowjetische Erfahrung durch oder es wurde aus finanziellen Gründen eben improvisiert, aber eben immer anders als »wir« das gemacht hätten. In den letzten Jahren immer häufiger freilich waren es »Euro-Lösungen« aus dem Baumarkt oder sonst wie 08/15.
Was wir heute sahen, war eine grosse Überraschung. Die Eltern unserer Freundin planten seit langem den Bau eines Hauses um die Enge im Bokštas aufzulösen. Viel Zeit verging, nicht nur sondern eher zuletzt wegen der Planung – das Geld muss erst einmal vorhanden sein. Nun also besichtigten wir die Baustelle und wir staunten nicht schlecht. Der Rohbau erfolgt zunächst ausschliesslich aus grossen grauen Styroporelementen, die auf den ersten Blick aussehen wie überdimensionierte LEGO®-Steine. Sie sind innen hohl und werden nach dem Zusammenstecken mir Armierung und Beton ausgefüllt. Damit stehen die Wände mit Innen- und Aussenisolation.
Wenn man etwas nicht kennt geht man ins Internet. Dort fand ich auch sehr schnell den Lieferanten. Sitz in Kassel, Vater und Sohn wie dort steht, aus – Russland. Schliesst sich da ein Kreis?
Zwiespalt
Apropos Russland: Hier laufen ja ständig in allen Räumen die Fernseher, von alten kleinen Röhrengerät bis zur flachen Bildwand ist alles vorhanden. Welche Sender laufen hier? Vor allem russische, zuweilen ein ukrainischer, ein belorussischer und natürlich auch der litauische – wegen der lokalen Nachrichten. Ach ja, der deutschsprachige Sportsender, derzeit mit schwimmenden und synchronspringenden Athleten und -innen. Vor 20 Jahren haben sie alles herunter gerissen, überpinselt, vermauert, was irgendwie russisch war. Heute sehen sie nicht nur russische Sender: In den Schulen wird russisch neben englisch und französisch wieder nachgefragt und gelehrt; deutsch scheint nicht sooo existent obwohl immer noch viele Alte deutsch können, vieles an deutsche Einflüsse erinnert; nicht nur die »deutsche Strasse«, die VokieÄių gatvÄ—. Auf ihr tummelt sich alles und jeder heute, nicht nur Touristen. Am Wochenende quillt sie über, von einheimischen Jugendlichen vor allem. Geschichte? Historisches Andenken?
Wie meinte unsere Freundin in Vilnius? »You should know the language of your enemy.« Russisch, die Sprache der Konfrontation?
Aber wir werden auch damit konfrontiert, Putin sei der neue Hitler. Welche Verwirrung in den Köpfen, freilich erklärlich wegen der Geschichte der baltischen Länder. Litauen, wie die Ukraine und andere Länder des Ostens, einst voller Kollaborateure der Nazimeute – ausgeblendet. Judenverfolgung und -vernichtung in Vilnius? Der Stadt mit fast 30% Juden im Jahre 1931? Ausgeblendet. Ja etwas wie Wut schlug mir einst entgegen von einer Bekannten, der ich sagte, wir wollten das jüdische Museum und die Gedenkstätte besuchen. Wir sollten besser der von den Sowjets verschleppten und ermordeten Litauer gedenken und ins KGB-Museum gehen. Was wir taten, sowieso.
Der Mensch scheint überwiegend nicht in der Lage, mehr als eine »Wahrheit« oder Meinung akzeptieren und verarbeiten zu können.
Nachrichtenlage
Die russischen Nachrichten, die hier ständig reintropfen, werden aus dem Augenwinkel verfolgt, es könnte ja interessante Werbung dazwischen sein. Ach so: Die soaps werden natürlich dankbar angenommen. Es ist schwierig. Die Sprachbarrieren beginnen spätestens beim Versuch, politisch differenziert zu kommunizieren. Also – ausblenden.
Anders die Griechen. Ihr Andenken an osmanische, italienische, englische oder deutsche Einflüsse in ihrem Land sind da präsenter, nicht erst seit Merkel, über die sie mit uns ihre Witze reissen. Dennoch: Irgendwie kommen uns die Litauer immer wieder so vor, als seien sie die Griechen des Nordens. Ihr Reich reichte einst von der Ostsee bis ans Schwarze Meer, wo sie ohne Zweifel den Kontakt zu den griechischen Siedlern hatten, auch auf der Krim. Nur zum Beispiel…
Ob der Tsatsiki das einzige ist, was von der Begegnung blieb? Ich finde, es ist mehr. Indogermanische Wurzeln, zum Beispiel. Und ab 1.1.2015 haben bzw. behalten beide den Euro. Auch zum Beispiel.
Und jedenfalls ist und bleibt Europa spannend. Und zwar im positiven Sinn. – – Aber ich bin wohl wieder vom Thema abgekommen. Es ging um das LEGO®-Haus und den russlanddeutschen Lieferanten in Kassel… 😉