Warum ich nicht mehr schreibe

Samstag, 28.11.2015, 21:31:08 :: Naxos

Schreiber, was bemühst du dich, immer gut zu schreiben?
Liest dich denn ein jeder gut? Treib’s, wie’s alle treiben!

Johann Ludwig Wilhelm Müller („Griechen-Müller“)

Ich gestehe, dass sich mein Gehirn seit Ende Januar diesen Jahres zusehends weigerte, den Fingern ein paar Sätze in die Tastatur zu erlauben. Ich bin nicht deprimiert, das kann ich ausschliessen. Zornig ja. Aber die ehrliche und offene Betrachtung der Realität animiert nicht zu freudigem Schreiben.

Der 25. Januar war Wahltag in Griechenland. Der Anlass zur Hoffnung, es würde sich Entscheidendes ändern für die Menschen in Griechenland nach all der widerlichen Schmäh und Verleumdung der Zeit davor und von höchster Stelle. Es änderte sich nichts, es wurde nur deutlicher, brutaler und niederträchtiger. Kurz: alles was danach in Europa geschah, hat mich fassungslos gemacht. Man hat der neuen Regierung keine Chance gegeben, nicht die kleinste. Ich hätte es in absonderlichsten Träumen nicht für möglich gehalten, dass insbesondere deutsche Politiker – im Verbund mit Feiglingen in der zweiten und dritten Reihe aus den übrigen EU-Ländern (die Maulaffen am Rande und die völlig Korrupten lasse ich jetzt der Einfachheit halber weg) – eine derart niederträchtige Politik verwirklichen würden. Und das gegen jede Moral, ja gegen jede politische und ökonomische Vernunft.

Europa war viel weiter vor diesem Zeitpunkt. Was wir heute haben, nach noch nicht einmal 12 Monaten, ist eine Ruine, die nicht wiederzukennen ist. Nicht, dass schon im Umgang mit der Ukraine und Russland gravierende mehr oder weniger raffiniert eingefädelte Konflikte geschürt und damit Kräfte verzehrt wurden; die seit Jahren absehbar mit den Konflikten in Afrika und Nahost steigende Flüchtlingswelle, mit der die eh‘ in der Krise hängenden Südländer alleine gelassen werden, kam als zusätzliche Belastung absehbar hinzu und zerreisst Europa in die alten nationalen Stücke; rechte Parteien drohen überall mit roll back; wo »linke« Alternativen gesucht werden, liquidieren die Frontmänner der Brüsseler (man muss ja leider sagen: der deutschen) Politik und die Duckmäuser im Hintergrund kurzerhand fundamentale demokratische Rechte; Merkel flieht ins Hofieren des türkischen Sultan in ekliger Weise; deutsche Militärhilfe befeuert Konflikte durch Waffenlieferungen und nun wohl durch direkte Unterstützung in Syrien; die EU-Spitze ist von Skandalen bedrängt…

Nichts, aber auch gar nichts ist noch soweit intakt, dass man den Glauben an Europa und seine integrative Kraft aufrecht erhalten könnte – das Fehlverhalten wird zum Faden, der sich endlos weiter spinnen lässt. Ich gehe an dieser Stelle der Kürze wegen bewusst auf die Einflussnahme und Schuld von »Freunden« und »Partnern« ausserhalb Europas an alledem bewusst nicht ein, verweise aber auf die Selbstdarstellung »der einzigen Weltmacht«.

»Ein Buch, das man lesen und ernst nehmen sollte.«
– Helmut Schmidt

Doch in einen Punkten bin ich mir sicher: Die USA sind die Hauptverursacher, sie sind der Dreh- und Angelpunkt. Und weiter: Das, was wir gelernt haben, uns unter Demokratie vorzustellen, existiert bereits nicht mehr, soll nicht mehr existieren. Auf dem Weg zu und an den erkennbaren Auswirkungen von TTIP – nur als Beispiel – ist das klar erkennbar. Und es bedarf enormer Anstrengungen, zu retten, ja wieder zu erlangen, was schon verloren gegangen ist; ich vermeide bewusst den Konjunktiv »würde bedürfen«. Denn so sicher wie die Wahrheit in solchen Zeiten und Krisen zuerst stirbt, so wenig darf die Hoffnung sterben. Ich habe mich immer glücklich geschätzt, zur ersten Generation zu gehören, die ihr Leben ohne Krieg am eigenen Leib beenden kann. Ich bin mir aber nicht mehr sicher.

So weit, so niederschmetternd, so schlecht.

Natürlich wiederholt sich Geschichte.
Von Anfang an.
Und wenn man Alternativen nicht versucht, sowieso.

Die tätige Beihilfe der Medien, ja deren zuweilen vorauseilende, fordernde Agitation hat überwältigend bewiesen, dass wir uns auf »die Presse«, wie wir sie kannten und gewohnt waren, nicht mehr verlassen dürfen, wenn wir einigermassen informiert sein wollen – was wir sollten. Das Internet gestattet, täglich nahezu beliebig viele Quellen darauf hin zu prüfen, was wohl der Wahrheit am nächsten kommen könnte. Mithilfe eines RSS-Feeders ist das auch zu schaffen, den Überblick zu behalten. Wer Christopher Clarks »Schlafwandler« gelesen hat – die Gelegenheit war letztes Jahr zur 100. Wiederkehr des Beginns des 1. Weltkriegs mehr als günstig – konnte und kann täglich nachvollziehen, wie eine abhängige und zugleich abhängig machende Presse wirkt. Irgendwer behauptet ja immer, Geschichte würde sich nicht wiederholen. Das stimmt nicht.

So nebenbei bemerkt: Ich bin mir sicher, mit die verlässlichste Aufklärung kommt heute vom Kabarett und nicht von der Tagespresse. Die monatliche Anstalt ist der Beweis – wenn Fernsehen schon unbedingt erwähnt werden soll. Wobei ich mit Verwunderung feststellen musste, dass viele gar nicht wissen, dass es sie gibt.

Youtube, Die Anstalt

Alles bewegt sich – nach rechts

Jeder kann sich informieren. Ich möchte daran erinnern, dass ich täglich fast alle gelesenen Artikel in Facebook verlinke und kommentiere, als Gedankenstütze und schnellen Einstieg für manche, die nicht so viel Zeit investieren können. Aber ich gestehe auch: Information macht nicht glücklich. Verdrängen aber andererseits krank. Und Facebookabstinenz ist lächerlich. Wir müssen diesem gefährlichen Wiedererstarken rechter nationalistischer Bewegungen entgegentreten, die falsche Zunge unserer Medien erkennen und benennen, die Herrschaften benennen, die Seilschaften, die Diener, die Kriecher, die Korrumpeure.

Und wem das als Erklärung alles noch nicht reicht – und fast hätte ich es vergessen: Ich war und bin froh und dankbar, ein Jahr ohne Krankenhaus, ohne Operationen, ohne Schmerzen und einem Minimum an Angst fast hinter mir zu haben. Ich habe es genossen, nicht zu schreiben. Aber zuweilen hat es mich gequält.

So. Aber…

…zum Abschluss noch was längeres, was heute in meiner Post war. Es ist ein ungekürzter Bericht von Kai Ehlers zum Thema »Flüchtlinge – „an die Wurzel gehen…“«. Mir hat er ein Stück weiter geholfen. Anders zu denken, als wir sollen, hilft jedem. Und uns allen.

Macht es nicht Mühe, tagaus, tagein das Selbe zu sagen und zu schreiben, sich vorwerfen zu lassen: Ah, schon wieder! – und es dann doch wieder zu tun, nicht aus Armut, sondern aus dem Gefühl heraus, dass gewisse Anschauungen in die deutschen Köpfe gehämmert werden müssen? Es macht müde. Und es kommt wohl bei Allen, die nachdenken, der Punkt, wo sie zögern, zaudern, zweifeln… Sollen wir noch?

Kurt Tucholsky

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