* Rund Europa 2016 (3), 7. – 15. Tag: Chmelnitsyi

Montag, 29.08.2016 :: Chmelnitsyi, Hotel Eneïda
Mittwoch, 07.09.2016, 14:13:42 :: Hotel Eneïda
Donnerstag, 08.09.2016, 23:08:45 :: Hotel Eneïda
Dienstag, 29.11.2016, 14:32:53 :: Galanado
Mittwoch, 11.01.2017, 17:48:56 :: Galanado

(28. August – 5. September)

Es war zweifellos Glück im Unglück, dass wir gestern Abend entschieden hatten, noch einen Tag länger zu bleiben: Unser Freund hing mit einer Art Sommergrippe herum, die er sich wohl bei seinem Töchterchen eingefangen hatte, ein Wiedersehen und Zusammensitzen war so irgendwie sehr kurz und ein bisschen quälend. Es wäre nichts gewesen mit Zusammensitzen.

Es reicht gerade für einen Ausflug ins »Oasis«, in einen Konsumtempel, zum Informieren, was es denn so gibt hier und mit knapper Not noch für einen Cappuccino, denn sie schliessen hier um 21 Uhr; es lohnt sich einfach nicht, im Gegensatz dazu Vilnius: Die Akropolis ist offen von 8-24 Uhr.

Auch was man so sieht: Viel Glitter, aber im Vergleich zu Litauen mit einem schmalen Angebot. Die Ukraine ist weit hinterher, was zwar kein Qualitätskriterium darstellt, aber es fällt im Vergleich eben auf.

Gegenüber unseren ersten Eindrücken im Juli 2006 – also vor zehn Jahren – auf dem sonntäglichen »Russenmarkt« hinterm Bahnhof aber ist es eine völlig andere, neue Welt, die sich dem westlichen Konsumuniversum nahezu angeglichen hat.

2006-07-30 Russenmarkt

2006-07-30 Russenmarkt

2006-07-30 Russenmarkt

Die drei Bilder sind vom 30. Juli 2006

Aber für wen? Wir zahlen für den Cappuccino 70 ¢ bis 1 €. Und das ist teuer, für jeden Tag zu teuer für normale Ukrainer. Der »Russenmarkt« besteht noch immer, mittlerweile aus der Innenstadt ausgelagert an den Stadtrand auf ein riesiges Gelände mit grossen Hallen. Dort kauft »man« ein, eher nicht hier…

Das Hotel ist dasselbe wie all die Jahre, die wir seit 2006 hierher kommen. Die Räume grosszügig, ein 2-teiliges Appartement mit allem Schnickschnack – nur mittlerweile ohne Frühstück; hat sich wohl nicht gelohnt…

Ja, und das ganze für 22 € pro Nacht zu zweit. Frühstück gibt’s ab 9 Uhr früh direkt vor dem Eingang im Café Lemon – zwei grosse Omelettes und vier Cappuccino für knapp 5€.

Ja, überhaupt: Die Preise sind hier generell für Westler nichts, worüber man sich den Kopf zerbrechen müsste. Das gilt in gleicher Weise auch für wirklich edle, gemütliche Lokale mit hervorragender Küche.

Und deshalb verdient der Besitzer dieses »Fliegenden Cafés« direkt neben dem Lemon auch seinen Lebensunterhalt; er steht da von morgens bis abends…

Abends treffen wir uns dann in einem dieser Lokale, im »Restaurant Spiegel«, ein Muss für jeden Besucher.

Es verspritzt den Charme der k.u.k.-Zeit inklusive passender Musik, kombiniert mit hervorragenden Speisen zu den erwähnten Preisen. Das Haus macht einen fast unwirklichen Eindruck auf mich; es soll über hundert Jahre alt sein, stammt also gewiss nicht aus der Epoche der »sozialistischen Backsteinromanik«.

Soweit ist also alles bestens, als wir zu Bett gehen, auch die Klimaanlage hat für die angenehmen 21°C gesorgt.

Bis…

…ich irgendwann in der Nacht mit irren Schmerzen im rechten Bein aufwache. Ums kurz zu machen: Ein Erysipel, eine Wundrose, wie schon im Sommer 2000, dieselbe Stelle.

Im Laufe des Tages kommt auch das Fieber samt allgemeiner Gliederschmerzen. Das bedeutet, dass ich einen Arzt brauche.

Abends führt uns Viktor dann in die Notaufnahme des Hospitals und findet Ärzte, die konstatieren, was ich wusste: Erysipel, Antibiotika, Schmerzmittel, Antihistaminikum. Das besorgen wir auch gleich; Apotheken haben eigentlich immer offen, die Medikamente bekommt man auf Zuruf zu einem Spottpreis. Ich habe aber immerhin ein »Rezept«.

Die Konsultation, ja selbst eine Behandlung mit UV-Licht, deren Sinn sich uns zwar nicht erschliesst, der ich mich aber an zwei Tagen unterziehe, sind kostenlos – auch für Ausländer.

Und so liege ich im Wesentlichen mehrere Tage im Bett, Beine hoch, Fieberthermometer im Mundwinkel, schlucke brav mein Antibiotikum, habe bei kleinsten Bewegungen irre Schmerzen und – warte.

Zweifel kommen auf, weil keine Besserung: Wir konsultieren ein weitere Krankenhaus, der Facharzt ist nicht greifbar, also nochmals am Abend. Wir wechseln das Antibiotikum.

In den folgenden Tagen ändert sich das Schmerzverhalten völlig: Nach nur wenigen Schritten weicht die stechende Höllenqual einem schmerzfreien Zustand, so dass wir morgens zum Frühstück und abends zum Abendessen durch den Park spazieren können; nur länger Sitzen, das geht nicht, dann ist der Schmerz sofort wieder da.

Wären die Schmerzen nicht…

…wären diese Tage ein wunderschöner Aufenthalt. Der Park, die Cafés und Restaurants, das Leben vor dem Hotel – es ist schön hier.

Ja, und am 1. September fängt natürlich, wie überall in den ehemaligen Sowjetländern, der Schulbetrieb an. Das gilt auch für die private Universität, die sich direkt vor und neben dem Hoteleingang befindet.

Und so kann Lis die Immatrikulationsfeier hautnah erleben: Mit Riesenpomp, Schlangestehen,…

…Hand-aufs-Herz und Nationalhymne, Kranzniederlegung für die Kämpfer für Weiss-ich-nicht-was findet die Einschreibung statt. Es hat schon ein sehr nationalistisches Gepräge, das Ganze…

Chmelnytskyi

Die Stadt lädt natürlich auch zum Studium ein, wenn man ans Zimmer oder gar ans Bett gefesselt ist.

So finde ich unseren schwäbischen Pfarrer und Schriftsteller Albrecht Goes mit einer Erzählung Unruhige Nacht, die sogar verfilmt wurde und die zum grossen Teil hier in – damals noch – Proskurow spielt. Es geht um einen jungen fahnenflüchtigen deutschen Soldaten, den der Feldgeistliche ruhig halten soll, bis er im Morgengrauen erschossen wird.

Sogar ein Exemplar mit seiner Signatur konnte ich bei Amazon auftreiben.

Und da ist noch Alexander Iwanowitsch Kuprin, dessen Roman Das Duell hier spielt.

Von den realen Gräueln sowohl in sowjetischer aber vor allem der Zeit der deutschen Besatzung will ich hier gar nicht anfangen – um 1900 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung knapp 50, am Kriegsende um die null Prozent…

Die Ukraine lag und liegt immer zwischen den Interessengebieten Westeuropas und Russlands, ein Thema das uns so manchen Abend in vielerlei Hinsicht beschäftigt. Der Krieg im Osten ist zwar weit weg, im Bewusstsein aller hier spielt er doch eine Rolle; »technical war«, wie ihn Viktor nennt, kühl, schon irgendwie verbittert, weil er weiss, dass die einfache ukrainische Bevölkerung gegen das Handeln der korrupten Oberschicht samt ihrer ausländischen Helfer nichts ausrichten kann; wen man wählt, ist egal.

Das tägliche Leben…

…wie es morgens beim Frühstück an uns vorbei hastet, das Leben im Park, wo vor allem Mütter und Grossmütter ihren Kindern beziehungsweise Enkeln Unterhaltung auf Schaukeln, Hüpfburgen und in kleinem Elektroautos bieten – alles schaut so normal aus.

Nur die ungewöhnliche Ansammlung von SUVs fast jeder Marke vor den netten Cafés und ihrer meist völlig verfetteten Besitzer, die dort meist glatzköpfig und grosspurig verkehren, sie zeugen von den scharfen Gegensätzen, die man so nur erfährt, wenn man mehrere Tage bleibt und immer wieder schaut: Was wiederholt sich?

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