Sonntag, 11.09.2016, 22:53:46 :: Todireşti, »Motel SV«
Es ist Sonntag Morgen und wir sitzen vor dem Hoteleingang beim Frühstück, sozusagen im Gartenrestaurant. Das ist der großzügige frisch gepflasterte Fussweg, bestuhlt von der Brauerei, die das Flüssige liefert.
Auf dem Platz ist wieder emsiges Markttreiben, ein sonntägliches Verkaufsverbot existiert hier selbstverständlich nicht. Was denken die Markfrauen, die eifrig ausbreiten, anbieten, umstellen wohl über uns, die wir hier gewissermassen in der Loge sitzen und uns das Spektakel ansehen? Lis kauft Trauben und wir werden mal wieder daran erinnert, wie Trauben schmecken können – sollten.
Auch das andere deutsche Paar sitzt nach beendetem Frühstück noch da. Wir unterhalten uns darüber, was wir denn heute jeweils so vorhaben. Überraschung: Sie fahren zurück nach Kischinau, übernachten da und fliegen morgen zurück nach Deutschland. Wir verabreden uns im Hotel, das wir heute auch ansteuern wollen.
Etwas Historische Geografie
Wir sind ja in Bessarabien unterwegs, der historischen Landschaft zwischen Pruth und Dnister.
Das Gebiet ist nahezu identisch mit dem heutigen Moldawien beziehungsweise der Republik Moldova. Es war das Puffergebiet zwischen Habsburg, Russland und dem Osmanischen Reich.
So ähnlich ist es auch geblieben, lediglich die Osmanen sind entfallen: Moldawien war Teil der Sowjetunion und ist es zum kleineren Teil gewissermassen immer noch, nämlich mit Transnistien (das aber nie Teil Bessarabiens war, da trans-, also östlich des Dnister gelegen) und für Habsburg in »der Westen« in die Bresche gesprungen. Bis auf – dazu erst später mehr; es ist alles nicht so einfach mit »wem gehört was, wer wohnt wo, wer ist wo Minderheit, aber zuhause?«. Und vor allem: Auch an Moldawien zerren wie in der Ukraine, dem unmittelbaren Nachbarland, im Westen die USA/EU und die NATO und im Osten Russland.
Moldawien ist das ärmste Land Europas und fest im Griff der korrupten Eliten, die einen angeblich pro-westlich, die anderen pro-russisch, in jedem Fall wie in der Ukraine: Pro-selbst.
Unsere Fahrt geht durch eine in unendlich langgestreckten Wellen daliegende Landschaft, wenige Siedlungen, immer weniger Wälder, aber Felder und Brachen bis zum Horizont. Es wird immer mehr wie Steppe. Richtige Steppe wird es dann erst ganz im Süden, im Budschak, den wir in zwei bis drei Tagen erreichen werden; dann sind wir wieder in der Ukraine, an der Donau und am Schwarzen Meer.
Nüsse für Deutschland
Und fast immer diese Alleen von Walnussbäumen. Wahrscheinlich essen viele von uns die Kerne auch in Deutschland.
…an den Nusserzeugern nehmen, die ihre Waren längst im großen Stil in die EU verschicken. „Ich produziere nur für den Export nach Westen“, sagt der Walnussbauer Ion Cuhal. Rund 300 Tonnen Walnüsse – ganz, halbiert, gemahlen – exportiert sein Unternehmen jährlich allein nach Deutschland, 30 Prozent davon in Bioqualität. Das russische Embargo trifft ihn nicht.
Da sind sie wieder!
Irgendwann überholen wir einen Nachzügler und kurz darauf haben wir sie alle eingeholt: Die Friedensläufer sind auf dem Weg von Soroca nach Orhei (viele Bilder!) und Kischinau – genau wie wir. Eskortiert von der Polizei rennen sie in dieser Hitze durch die Landschaft.
Ach ja. Diese hervorragende Strasse. Wer die wohl (mit) bezahlt hat?
Wie in Albanien und anderswo in Europa, wo das amerikanische Militär gute Strassen braucht, da bauen sie (mit). Wir haben das immer wieder erlebt. Mehr über die MCA/MCC
Um sich für MCA-Mittel zu qualifizieren muss ein Kandidatenland bei mindestens der Hälfte der Indikatoren in jeder Kategorie über dem Median liegen. Der Median für Korruption ist dabei besonders wichtig. Liegt ein Land bei diesem Indikator unter dem Median wird es dadurch automatisch für MCA-Mittel disqualifiziert. Auf diese Weise sollen nur Länder gefördert werden, die ihre Bereitschaft zu Reformen, einer guten Wirtschaftspolitik und Good Governance gezeigt haben.
Da kommen doch Zweifel auf…
Und wir wären dann wieder bei der derzeit so beliebten Frage, wer journalistisch ausgewogen, steril oder propagandistisch berichtet. Aber das soll jetzt nicht weiter verbreitert werden; man kann sich ja informieren – wenn man will.
Das fällt auch auf: »Freigeistige Kirchen«, immer wieder werben sie um »Kundschaft« im ansonsten ja – auch durchaus modernen – orthodoxen Umfeld.
Und was wäre die Landschaft ohne ihre Brunnen, immer wieder anders…
Das Senfle wird eingeseift
In Orhei entdecken wir direkt an der Strasse ein grosse Waschanlage und das ist die Gelegenheit, endlich den Staub der letzen x-tausend Kilometer loszuwerden. Und so erstrahlt das Senfle wieder wie neu – von aussen jedenfalls.
Kischinau
Der Verkehr nimmt nun massiv zu, die Hauptstadt naht.
Wir geben ja Kischinau heute eine zweite Chance. Um es kurz zu machen: Die Stadt hat wieder nicht bestanden. 2010 waren wir, von Rumänien her kommend, nach Moldawien gereist und hatten mit dieser Stadt dasselbe Problem auch damals schon.
Einschub: Ich stelle gerade fest, dass die ganzen Reisetage noch nicht dokumentiert sind – eine Schande nach sechs Jahren…!
Jedenfalls: Als wir das Hotel endlich sowohl gefunden als auch durch ein Riesengewirr von Baustellen erreicht haben ist es belegt, aus unserem Treffen heute wird also nichts.
Alle weiteren Hotels sind entweder völlig überteuert oder existieren nicht (mehr). Die aggressiven Autofahrer, der Dreck, der Lärm – wir geben auf und fliehen, wie 2010 auch, weiter nach Süden. Ich denke noch: Albanien ist eine Vorzeigestube dagegen. Und auch das Zitat passt durchaus:
2015 hat der jetzige Bürgermeister von Chişinău (Vize-Vorsitzender der rechten Liberalen Partei) die Wahlen zum dritten Mal gewonnen, dadurch dass er seine gesamte Wahlkampagne hindurch gegen russische Panzer wetterte. Gleichzeitig sieht die Stadt seit geraumer Zeit so aus, als würden hier Straßenkämpfe stattfinden.
Die Karten unseres Navi auf dem iPhone haben uns in den letzten Jahren auch in schwierigen Situationen und Gegenden nur selten im Stich gelassen – hier versagen sie völlig für eine Strecke, die einfach zu fahren gewesen wäre. Aber wir landen in einem trockenen Bachbett, irgendwo am Bahndamm und fahren mehr als sechs Kilometer mal wieder halsbrecherisch ins Ungewisse.
Wir wissen nicht, ob wir nicht besser umkehren sollten. Aber wenn das Navi sagt, das geht… Und es geht, am Ende sind wir wieder auf sicherem Boden und treffen nach einigen wilden Gekreuze auf ein Motel, Teil einer russischen Freizeitanlage. Da ist kein Zufall, russisch ist hier in Moldawien allgegenwärtig.
Prächtige Ausstattung wird uns geboten, rot-braun-gold, dickte Teppiche und – stinkendes Duschwasser. Aber ein Freischwimmbecken, Eintritt 100 Leu, also 4,50 € für uns beide. Das entschädigt erst mal für alles.
Für’s Abendessen wird es dann knapp, wir haben nur noch 250 Leu, also etwas mehr als 10 €. Ein Bankomat? Ja, in Kischinau, 25 bis 30 km zurück…
Aber auf Anfrage, was sprachtechnisch schwierig ist, denn nur ein junger Mann ist des Englischen einigermassen mächtig, nehmen sie auch Euro. Damit ist das Abendessen finanziell gerettet und wir können morgen auch frühstücken. Was die Küche allerdings noch anzubieten hat am Ende einen wohl tollen Wochenendes ist mager, hält uns aber am Leben.
Die Anlage ist mittlerweile komplett leer, der Sonnenuntergang als letztes Schauspiel beendet, wir sind die einzigen Gäste. Wie gesagt, es ist Sonntag Abend, das heisse Wochenende hier, ist zu Ende. Dass dem so sein muss, zeigen die endlosen Bildergalerien in Facebook…
Das erfahren wir aber erst wesentlich später, denn es gibt kein funktionierendes Internet. Das heisst, es gibt einen starken Router. Aber niemand weiss das Passwort.
Links:
- 2017-01-18 Republik Moldau: Bemerkenswerte Neuigkeiten :: Igor Dodon, der neue Präsident Moldaus, schwenkt sein Land von einer Ausrichtung, die als „pro-westlich“ bezeichnet wird auf eine neutrale Position.
Dodon ließ mit seinem Amtsantritt Ende Dezember 2016 die EU-Flagge von der Residenz des Staatsoberhaupts abnehmen. Die Sprache des Internetportals des Präsidenten wird nicht mehr als Rumänisch bezeichnet, sondern als Moldauisch. Dieses wird auch in der Verfassung des Landes als Staatssprache bezeichnet.