Mittwoch, 31.07.2019 bis Freitag, 02.08.2019 :: Antažiegė/Dusetos (litauisch), hier Wikipedia
Uunsere erste Nacht im ersten Stock über Violetas Atelier ist uns sehr gut bekommen, entgegen den Befürchtungen von Violeta und Virgis, die nicht sicher sind, ob wir beide nicht zu »zivilgeschädigt« sind, um mit einfachen Verhältnissen klar zu kommen.
Wir kennen uns gegenseitig eben noch zu wenig. Aber das wird sich ändern. Wir fühlen uns hier sauwohl.
Der grosse See lädt zum Bade, auch wenn die Temperatur nicht danach ist. Das Wasser ist wärmer als die Aussenluft. Und so »hängen« wir in angenehmem, sehr klarem braunem Wasser und lassen die Blicke schweifen: Wald, Schilf, an den anderen Seiten des Sees blinzelt zuweilen ein Haus durch die Bäume, einen weiteren Steg machen wir auch aus, aber sonst? Stille, bis auf Vögel natürlich.
Fische gibt es hier, gestern Abend frisch gefangen und zubereitet, Krebse auch. Aber beides ist eben nicht mein Geschmack. Pech gehabt …
Das Grundstück der beiden ist riesig und macht sehr viel Arbeit, eher zu viel. Es gibt tausend Sachen zu entdecken, Natur und Kunst zu gleichen Teilen, aber beides in Hülle und Fülle.
Die alte Scheune hat sich auf einer Seite gesenkt und droht, einzustürzen. Also muss sie auf dieser Seite freigeräumt werden um sie dann so zu heben und zu stabilisieren, dass sie weiter genutzt werden kann.
Der kleinere See gegenüber ist künstlich angelegt, um zu vermeiden, dass das speisende Flüsschen immer wieder das Anwesen überschwemmt; dafür hat er aber zwei Inseln. Dort wohnen Bieber, die wir aber nicht zu Gesicht bekommen; die Abende sind zu kühl, um am Ufer zu sitzen, etwas zu trinken und sie zu beobachten.
Das Storchennest ist noch von einem Kind belegt, wie ich gestern schon schrieb, das nicht so recht fliegen mag, aber energisch nach Futter quietscht und fiept. Zwei Tage zuvor landete er beim ersten Flugversuch zunächst auf dem Platz zwischen den Häusern, schaffte es von da zunächst aufs Vordach des Wohnhauses und von dort später doch wieder hinauf aufs Nest. Da sitzt, liegt und steht er nun und wartet auf die Eltern mit Futter. Er muss bald fit sein für die Reise nach Afrika, denn der Sommer scheint hier gelaufen, es ist kalt.
Immer mal wieder am Folgetag nimmt das Kind einen neuen Anlauf. Bevor wir weiterfahren, scheint es flugtauglich.
Trödelmarkt
Wir schliessen uns Violeta und Virgis an, die nach Dusetos fahren, um einzukaufen. Mittwochs ist Trödelmarkt, wie es sie überall in Osteuropa gibt, Quelle für alles, was man so braucht, Klamotten zu Spottpreisen, Ersatzteile, Werkzeuge, aber auch Gemüse, Honig, Fleisch, Speck und Würste.
Lis erwirbt eine Hose für 5 € und später noch einen Wohnpullover für 15 €. Violette ist derweil um das leibliche wohl besorgt und ich interessiere mich eher für den Speckstand. Ein grosse Stück Speck bekommen wir dann geschenkt – Sonderration für die vokieÄiai, wörtlich die »Helmträger«, wie die Deutschen auf Litauisch heissen; das schmeckt historisch …
Kunstgalerie
Danach werden wir ins Kulturhaus mit Galerie geführt. Dort wartet eine grosse und beeindruckende Ausstellung von Gemälden, Skulpturen und Installationen.
Ist Dusetos eine Künstlerkolonie? Man könnte es meinen. Aber Virgis winkt ab – noch zu wenige, die sich hier niederlassen, als Besucher kommen mehr.
Neben der Ausstellung beherbergt das Kulturhaus eine Bibliothek und – Überraschung! – einen richtig grossen geschmackvollen Veranstaltungssaal.
Ja, es ist sehr kühl. Wer Bewegung durch Arbeit hat, merkt das nicht so. Aber ich, der ich viel sitze, Bilder ordne und bearbeite und am Reiseblog schreibe, mir zieht die Kälte in die Knochen. Am Ende sitze ich da mit zwei Pullovern und zwei Fleecejacken und einer Fleecedecke über den Knien … Wenn’s mir nach Bewegung wäre, regnet es.
Aber am zweiten Tag ist dann doch Ruderwetter und wir kreuzen über den See.
Man spürt förmlich, wer den Takt vorgibt …
Und wir verstehen, warum die Zwei hier seit ca. fünfzehn Jahren leben, das alles gekauft und gestaltet haben. Die Ruhe, für Virgis auch das Material für seine Skulpturen und Stühle …
Lis meint nach einigen Tagen, sie wolle zurück in den Wald, eine Hütte an einem See würde ihr reichen. Und sie hat recht.
Wie schmalzte Heidi Brühl in »Annie get your Gun« in den Sechzigern? Ich habe das Musical damals in Berlin gesehen und es kommt mir eben das Lied in den Sinn:
»Im Wald versteckt, wo kein Kuckuck sie entdeckt …«
Wer’s ertragen kann – anhören.
Unsere Gastgeber
Nun wird es auch Zeit, unsere Gastgeber, Violeta Gasparaitis und Virgilijus Gasparaitis, vorzustellen.
Violeta Gasparaitis stammt aus Vilnius.
1981 absolvierte sie das Litauische Staatliche Kunstinstitut (heute Kunstakademie Vilnius), Schwerpunkt Keramik. 1981 zog es sie nach Leipzig.
Seit 1984 hatte sie Ausstellungen in der Kunsthalle Kunst der Zeit Leipzig, organisierte Einzelausstellungen in Altenburg und Halle, später Essen, und zuletzt 2015 wieder in Leipzig.
Aktuell und in den Jahren zuvor erstehen hier im Wald Keramikskulpturen und viele Gemälde.
Virgilijus Gasparaitis stammt aus Šiauliai. Seit 1964 lebte er in Leipzig. Nach einem Studium an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften in Leipzig begann er 1984 zusammen mit seiner Frau Violeta Holzskulpturen und Keramiken zu gestalten.
1999 kehrten sie nach Litauen zurück und traten der Kunstgalerie Dusetos bei. Heute nimmt er aktiv an Ausstellungen internationaler Künstler teil und organisiert internationale Workshops. 2014 organisierte er eine Einzelausstellung im Regionalen Museum von Zarasai und in der Galerie Dusetos.
Beide leben sie also hier im Dorf AntažiegÄ— bei Dusetos. Wobei das Wort „Dorf“ immer nur bedeutet, dass es ein paar verstreut Häuser gibt, irgendwo im Wald und zwischen Seen.
Übrigens: Der Sartai-See, an dem Dusetos liegt, verfügt mit etwa 79 km über die längste Uferlinie eines litauischen Sees. Unser Badesee hier ist allerdings deutlich kleiner.