Meine Entscheidung
Sonntag, 22.08.2021, 21:40:30 :: Stuttgart
Als ich vor etwas mehr als einer Woche das Krankenhaus verlassen konnte, gab man mir neben guten Wünschen und notwendigen Schmerzmitteln auch die Aufgabe mit auf den Weg, bis in zehn Tagen ein schwerwiegende Entscheidung zu fällen.
Ich habe sie gefällt.
Und die Konsequenz daraus quält mich ebenso als hätte ich mich anders entschieden: Ich stelle mich einer weiteren Operation nicht. Es geht über meine Kräfte. Ich schaffe es nicht, mich der Realität zu stellen, die mich erwarten würde: eine weiter verkleinerte und verstümmelte Zunge, ausgebessert mit einem Stück Haut und Fleisch aus dem Handgelenk, diese Stelle wiederum ausgebessert durch einen Lappen aus dem Oberschenkel. Und der sehr hohen Wahrscheinlichkeit, mit einem Luftröhrenschnitt zu erwachen, der mir für sehr lange – eventuell sogar für immer – das Atmen sichern würde. Ich kenne und erinnere sehr wohl an das Gefühl, nicht frei atmen zu können, kurz vor dem Ersticken zu stehen. Das war vor genau acht Jahren und aus weit nichtigerem Grund als dem, der jetzt zur Entscheidung ansteht. Wenn alles gut geht, so sagt man mir, beträgt die Rekonvaleszenz sechs Monate bis zu einem Jahr. Welche Einschränkungen und Schmerzen, welche Unmengen an Medikamenten, Abführmitteln und sonstigen Unannehmlichkeiten dies bedeutet, mag sich vielleicht niemand ausmalen – ich aber schon. Und deshalb weiss ich , dass mir die Kraft dazu fehlt und fehlen würde.
Auf der andere Seite weiss ich, dass der von mir abgelehnte Weg die Wahrscheinlichkeit senken könnte, dass der Krebs sich bald beziehungsweise überhaupt wieder meldet; oder umgekehrt: Ohne Eingriff erhöhe ich die Wahrscheinlichkeit seines Wiederauftauchens. Was dann käme, wäre (und ist dann!) mein emotionaler und wahrscheinlich auch körperlicher Untergang.
Wir reden also immer nur von Wahrscheinlichkeiten, denn Sicherheiten kann niemand erwarten und verspricht auch niemand, das wäre unlauter. So dramatisch und geschwollen es klingen mag – ich entscheide über den Gang der nächsten Monate, ja vielleicht auch Jahre in der Hoffnung, dass sie mir noch eine möglichst unbeschwerte Zeit gewähren, in der ich frei atmen, weitgehend unbeschwert essen und trinken, schmecken und riechen und vielleicht doch noch eine oder mehrere Reisen unternehmen kann.
Nun werden wir zunächst aber die Reha beantragen, ich werde den Zahnarzt aufsuchen, um einen bei der Operation teilweise ramponierten Zahn flicken zu lassen, meine Schwerbehinderung neu beantragen und anderen notwendigen Verrichtungen nachgehen – Naxos liegt in weiter Ferne.
In dieser bangen Erwartung – und doch auch Hoffnung – grüße ich Euch alle.
Links: