Mittwoch, 18.03.2020, 14:38:21 :: Naxos
Sonntag, 22.03.2020, 22:36:57 :: Naxos
Ich habe lange gezögert, diesen Beitrag zu schreiben. Die öffentliche Aufregung und Diskussion, ob nun von ganz normalen Mitbürgern oder solchen, die sich berufen fühlen, Fachleute gerufen zu werden – ich wollte da nicht mitmischen.
Wir sitzen in unserem Dorf Galanado auf Naxos, wir haben Klopapier, eine Badewanne und eine Dusche. Draussen grünt und blüht es, der Wind weht seit Tagen mit strammen 8 – 10 Beaufort aus Norden, das Öl im Heiztank ist aufgefüllt. Es gibt keine offiziellen Fälle auf der Insel, was aber – mit Blick auf die in Griechenland gemeldeten Fälle – nichts heissen muss. Wir bleiben drinnen, wenn Einkauf, dann eine/r, Händewaschen etc.
Soweit so gut.
Ich beobachte in unserer komfortablen Quarantäne stündlich die öffentlich gemeldeten Fälle aus Deutschland, Europa und der restlichen Welt. Und ich trage sie fleissig in mein Excel-Blatt ein und stelle fest, was ist.
An einer faktenfreien Diskussion werde ich mich also nicht beteiligen. Was ich tun kann und möchte ist, zu erklären, was ich sehe und warum es so ist wie es ist. Dazu braucht es nun ein ganz klein wenig Wissen über Naturgesetze und ein wenig Mathematik. Aber keine Angst, es tut nicht weh und schadet nicht, niemand wird weggeschlossen.
Vorab aber doch noch die Bemerkung, dass ich mich mein Arbeitsleben lang, spätestens seit 1969, mit derartigen statistischen und naturwissenschaftlich-technischen Fragestellungen beschäftigt habe, zu Anfang tatsächlich mit Papier, Bleistift und Rechenschieber und einer Brunsviga, später dann mithilfe von mancherlei grossen und später kleineren Computern. Das Wissen ist nicht verloren, ich habe es daher wieder hervorgeholt und will es hier anwenden, Excel sei Dank (ich war mit Sicherheit einer der Ersten, die das Ur-Rechenblatt in Deutschland eingesetzt hat).
Arten von Wachstum
Die Verbreitung von Krankheiten und deren Erreger gehorchen bestimmten Gesetzen. Diese haben sich nicht irgendwelche Hansel ausgedacht, sie bestehen einfach. Ein sehr einfaches und bekanntes Naturgesetz ist zum Beispiel der Freie Fall: Der Apfel fällt zu Boden, immer in Richtung Erdmittelpunkt – und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 100%. Warum fast? Es könnte jemand einwenden, dass es eine gewisse, zwar geringe, aber immerhin, Wahrscheinlichkeit gibt, dass er durch die Luft saust wie eine Hummel. Dem sein hiermit vorgebeugt; und auch hat es bisher niemand beobachtet.
Derartige Gesetze lassen sich in meist sehr einfachen mathematischen Gleichungen ausdrücken, im Falle des Freien Falls zum Beispiel durch die einfache Gleichung v = g*t. Damit lässt sich genau die Geschwindigkeit v beschreiben, mit der der Apfel zu jedem Zeitpunkt t fällt (und fallen wird! – das ist wichtig) seit er sich vom Ast verabschiedet hat: t ist dabei die Zeit, seit der er fällt und g ein konstanter Wert, die sog. Erdbeschleunigung. So. Mit dieser einfachen Gleichung des Herrn Newton lässt sich nicht nur durch Messen und Rechnen beweisen, dass der Apfel die erwartete Geschwindigkeit hat, bevor er auf den Boden knallt, nein, es lässt sich auch vorhersagen, welche Geschwindigkeit er hätte, wenn er weiter fallen würde. Diese Vorhersage gewinnt man durch die sog. Extrapolation, das heisst, man rechnet anhand der Gleichung einfach aus, welche Geschwindigkeit der Apfel nach einer späteren Zeit hätte, wenn er weiter hätte fallen können.
Warum erkläre ich das so breit?
Was jetzt kommt dient der Erklärung, warum wir zwar Schwierigkeiten mit grossen Zahlen haben, das aber nicht dazu führen muss, dass wir desorientiert durch die Gegend laufen müssen, wenn es um die wachsende Zahl von Infektionen geht.
Arten von Wachstum
Hier habe ich den einfachsten Fall, das lineare Wachstum, dargestellt:
Auf der waagrechten Achse sei die Zeit in Tagen aufgetragen, auf der Senkrechen Achse die Zahl von Vorfällen. Man sieht, dass von Tag zu Tag immer dieselbe Zahl von Fällen dazu kommt. So sind wir es gewohnt. Das Beispiel mit dem fallenden Apfel von oben folgt übrigens dem gleichen Gesetz: Jede Sekunde wächst die Geschwindigkeit um den gleichen Betrag.
Exponentielles Wachstum
Zunächst etwas schwieriger wird es (wird aber gleich wieder einfach!) für viele Vorgänge in der Natur, die nicht linear sondern exponentiell verlaufen. Worüber alle schon gehört oder gelesen haben: Der radioaktive Zerfall ist ein solches Beispiel. Bei ihm wachsen die Werte nicht, sie nehmen ab, aber nach derselben Logik. Man kann die folgende Grafik einfach um 90° im Uhrzeigersinn drehen, dann hat man die radioaktive Zerfallskurve.
Hier interessiert uns aber das Wachstum. Was gleich zu erkenn ist: Am Anfang passiert so gut wie gar nichts, gegen später aber steigen die Werte rasant. Und an dieser »Vorspiegelung falscher Tatsachen« scheitert unser Alltagsverständnis. Wir denken, da ist ja nichts, um dann fast schlagartig vor einer enormen Zunahme zu stehen.
Wie bekommt man das wieder in eine lineare Form? Der Trick ist einfach: Man stellt auf der senkrechten Achse die Werte nicht linear dar, wie wir das gewohnt sind, sondern deren Logarithmus. Kurz: Der Logarithmus einer Zahl (zum Beispiel 100) zu einer Basis (zum Beispiel 10), ist derjenige Wert, mit dem man die Basis potenzieren muss, um die ursprüngliche Zahl zu erhalten. In unserm Beispiel ist der »Zehnerlogarithmus« von 100 = 2, denn 102 ist 100. Ok?
Wenn man in unserem letzten Beispiel so vorgeht, erhält man – wieder eine Gerade, eine lineare Funktion.
Damit ist es sehr einfach, in die Zukunft zu extrapolieren, was bedeutet, dass man genau sagen kann, welchen Wert die Kurve nach zum Beispiel 20 Tagen annimmt. Man braucht dann nur die verwendete Basis (im Beispiel nicht 10 sondern 2) mit dem ermittelten Wert potenzieren und erhält den Wahren Wert nach 20 Tagen als 2Wert.
Die Basis 2 hat den Vorteil, dass man sehr schnell sehen kann, nach welcher Zeit sich ein Wert verdoppelt hat. Würde man als Basis 10 wählen, dann kann man ablesen, wann sich ein Wert verzehnfacht hat.
Die Praxis
In der Praxis stehen die Zeitpunkte genau fest, sie sind i.W. fehlerfrei. Das gilt in unserm Fall für die ermittelte Zahl infizierter Personen nicht, sie sind fehlerbehaftet. Das hat zur Konsequenz, dass sie keine idealen Kurven ergeben, die Werte sind irgendwie »krumm«.
Aber wir wissen, dass sie irgendwie auf einer Geraden Linie liegen sollten. Um diese Linie zu ermitteln gibt es ein statistisches Verfahren, die sog. Regressionsanalyse. Damit beschäftigen wir uns jetzt aber nicht weiter. Wichtig ist nur, dass sie uns die beste Schätzung des Verlaufs der Geraden liefert.
Wir sehen die Fallzahlen (festgestellte infizierte Personen) für Deutschland seit dem 1. März diesen Jahres (blaue Punkte und Kurve). Man sieht sehr gut, dass da manches nicht so ganz »stimmt«. Die orangene Kurve ist der berechnete Verlauf aus der folgenden Darstellung.
Hier haben wir also die blauen Punkte (aufgetragen als log2, dem Logarithmus zur Basis 2) und die berechnete Gerade, die so durch die Punkte geht, das die Summe der Abweichungen minimal ist. Es gibt nun einige statistische Parameter, die einem sagen, wie gut die Anpassung ist und wie wahrscheinlich ihr Verlauf ist. In unserem Fall ist die Anpassung sehr gut, wir können uns darauf verlassen, dass mit gewissen kleinen Abweichungen stimmt, was wir da berechnet haben.
Im Wesentlichen machen die Epidemiologen nichts anderes.
Was heisst das nun für die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, vorauszusagen, wie es nächste Woche aussieht? Das zeigt die folgende Grafik:
Ich habe hier viel verschiede Berechnungen durchgeführt.
- Nur Werte vom 1. bis 5. März (blaue Linie)
- Werte 1. bis 10. März
- Werte 1. bis 15. März
- Werte 1. bis 17. März
Man sieht daraus, dass man schon am 5. März sehen konnte, was Mitte des Monats (17./18. März) zu befürchten sein würde. Diese Aussage gilt natürlich unter der Voraussetzung, dass keine weiteren Einflüsse zur Wirkung kommen, wie sie jetzt (meiner Ansicht nach viel zu spät) eingeleitet werden. Heute, am Mittwoch, 18.03.202, ist kein Effekt zu erkennen.
Schlimmstenfalls sähe es dann so aus:
Und wie schaut’s sonst aus?
Hier die Fallzahlen der WHO, entnommen bei Wikipedia.
Und hier der Vergleich zwischen Deutschland, Europa und dem Rest der Welt in logarithmischer Darstellung.
Panik? Sicher nicht, Besorgnis ja, sogar sehr, denn alle Massnahmen, die nötig waren und sind, waren seit langem bekannt. Sie zu verkünden und durchzusetzen ist was anderes. Ich möchte derzeit kein Politiker sein. Aber über manche Gesundbeter schüttle ich den Kopf.
Links:
Diese Liste wird noch gefüllt
- Was ist ein Exponentieller _Prozess?
- Corona.Monitor der Berliner Morgenpost
, sehr aktuell
Ergänzung 2020-03-22
Seit ein paar Tage sieht es so aus, als gingen die Fallzahlen leicht zurück. Sicher ist das erst in ein paar Tagen, aber so sieht es derzeit aus (Fallzahlen wie immer von der Berliner Morgenpost)
Hier sieht mann, dass die prognostizierte Kurve seit dem 19./20.3. deutlich steiler ansteigt, als die gemeldeten Werte.
Noch genauer sieht man es hier: Während bis zum 18.3. die Werte sich sehr eng an die Regressionskurve hielten, kommt es jetzt zu starken Abweichungen. Woran das liegt, kann ich nicht sagen, aber hoffen darf man ja, dass es tatsächlich zu einer Abflachung kommt. Das RKI wird uns das dann sicher in zwei, drei Tagen erklären.